Stuttgarter Innovationstage 2023

Der Digital Twin im Mittelpunkt

Die sechste Ausgabe der Stuttgarter Innovationstage am 28. Februar und 1. März stand ganz unter dem Leitthema des digitalen Zwillings. Weil der Begriff so vielschichtig ist und oft unterschiedlich interpretiert wird, ging der Kongress sowohl auf Grundlagen zur Definition ein als auch auf konkrete Einsatzmöglichkeiten in der Produktion. Anwendungsbeispiele und Referenzen wurden ergänzt um aktuelle Projekte aus der Forschung. Kernbestandteil war in diesem Jahr ebenfalls wieder die ausgiebige Möglichkeit für Diskussion und Networking sowie ein Blick hinter die Kulissen des Veranstalters - in die Maschinenhalle des Instituts für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen der Universität Stuttgart (ISW).
Bild: TeDo Verlag GmbH

Die hohe Skalierbarkeit und Rechenleistung von Cloud-Plattformen auch für die Steuerungstechnik nutzbar machen: Dieser Gedanke bildete 2017 Grundlage der ersten Veranstaltung ‚Stuttgarter Innovationstage – Steuerungstechnik aus der Cloud‘. Seitdem wird der zweitägige Kongress (abgesehen von einer coronabedingten Zwangspause) jährlich durchgeführt und informiert über aktuelle Trends und Innovationen aus Steuerungstechnik und Digitalisierung. In diesem Jahr lag der Fokus des Kongresses ganz auf dem digitalen Zwilling. Am ersten Tag ging es vor allem um das Grundkonzept des Digital Twin in der Produktion. Vorträge zur Definition und Funktionsweise leiteten die Veranstaltung ein. Einblicke in den Planungsvorgang und umgesetzte Anwendungen vertieften anschließend das Verständnis. Am zweiten Tag ging es weiter mit konkreten Anwendungsfällen und dem Zusammenspiel mit KI und Machine Learning.

Traditionell startete die Veranstaltung mit einer Begrüßung und Einführung von Institutsleiter Prof. Alexander Verl. Mit Blick auf den Fachkräftemangel schilderte er zudem, wie schwer sich selbst eine Top-Adresse wie das ISW aktuell tut, ausreichend Studierende für den Maschinenbau zu generieren/zu finden/anzuziehen. „Es gibt Hochschulstandorte, die haben mittlerweile mehr Professoren als Studienanfänger“, so Verl augenzwinkernd.

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Wichtige Schritte bei Mercedes Benz

Anschließend startete das Vortragsprogramm – mit zwei Keynotes, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Den Auftakt machte Dr. Steven Travers, Direktor Digitalisierung und Automation bei Mercedes Benz. Sein Credo: Obwohl die grundlegenden Gedanken teilweise bis in die 1990er-Jahre zurückreichen, können digitale Zwillinge jetzt ganz neue Dynamik in die industrielle Digitalisierung bringen. „Verschiedene Dinge haben sich in den letzten Jahren sehr stark verändert“, konstatierte Travers. Allem voran die (in der Cloud) verfügbare Rechenleistung aber auch Simulationsmodelle, Edge- und IoT-Lösungen sowie Mixed Reality mit AR und VR.

Um den digitalen Zwilling in der Fertigung aber wirklich zum Erfolg zu führen, müsse man sich den Wandel in der klassischen IT-Entwicklung vom Wasserfallmodell hin zu agilen Methoden (zu Software-Erstellung in Iteration, zu Test und Anwenderfeedback on the fly) zum Vorbild nehmen. Digitale Zwillinge sollen dabei helfen, diese Denke auf die Fertigung zu übertragen. „So lässt sich der maximalen Reifegrad im virtuellen Modell erreichen, bevor man in Stahl und Eisen geht“, so Travers. „Im Ergebnis gibt es beim Go Live dann viel weniger Schwierigkeiten und besseres Kundenfeedback.“ Bei Mercedes habe man in letzter Zeit wichtige Schritte in diese Richtung gemacht. So seien etwa komplette Anlagen bereits virtuell in Betrieb gegangen, obwohl es die Fabrik in echt noch gar nicht gibt.

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Korrekte Definition des Digital Twins

„Mit leistungsfähigen digitalen Zwillingen lässt sich in beide Richtungen optimieren: Mit dem Digital Twin des Produkts die Produktion – und umgekehrt“, zog Travers sein Fazit. Er betonte aber auch: „Der digitale Zwilling ist kein pauschales Synonym für Digitalisierung“, und lieferte damit eine Steilvorlage für die Keynote Nummer zwei. Diese steuerte Andreas Wortmann bei, seines Zeichens Junior Professor für Informatik und der jüngste Zugang der ISW-Institutsleitung. Anlässlich eines Jahrzehnts der Forschung zu Cyber-physikalischen Systemen versuchte er in seinem Grundlagenvortrag mit Halbwissen und Unklarheiten aufzuräumen. „Es gibt kein allgemeingültiges Verständnis dafür, was ein digitaler Zwilling ist“, unterstrich Wortmann. Aber es gebe sinnvolle Definitionen – etwa die Kategorisierung von Werner Kritzinger, die verschiedene Entwicklungsstufen unterscheidet: digitales Modell, digitaler Schatten und digitaler Zwilling. Allen drei gemein ist, dass sich reales Objekt und digitales Abbild stets aufeinander beziehen. Den Unterschied macht, ob der Abgleich von Daten und Eigenschaften manuell oder automatisch erfolgt. Beim digitalen Modell muss er in beide Richtungen händisch erfolgen. Der Datenfluss beim digitalen Schatten läuft in eine Richtung schon automatisch, nämlich vom realen Objekt zum Abbild. Erst beim digitalen Zwilling geschieht der Informationsabgleich samt aller Metadaten vollkommen automatisiert – gegebenenfalls unterstützt durch entsprechende Cloud-Lösungen. Ändern sich die Eigenschaften auf der einen Seite, so werden sie stets auch auf der anderen übernommen.

Wortmann sieht drei Herausforderungen, die dabei noch zu lösen sind: die automatische Ableitung von Eigenschaften für den digitalen Zwilling, die automatische Komposition bzw. die Wiederverwendbarkeit sowie die Anpassung von digitalen Zwillingen im laufenden Betrieb ohne manuellen Eingriff von Domänenexperten. „Biologische Zwillinge kommen gleich auf die Welt“, so Wortmann, „und entwickeln sich dann auseinander.“ Das dürfe beim digitalen Zwilling und dem realen Objekt nicht passieren. Ein noch zu lösendes Problem, das auf den Innovationstagen immer wieder aufkam.

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Fundament für ASE und SDM

Institutsleiter Prof. Oliver Riedel steuerte ebenfalls einen Vortrag bei. Er berichtete, wie der digitale Zwilling den Anwender auf dem Weg zum Advanced Systems Engineering (ASE) unterstützen kann. Bei ASE handelt es sich um ein Leitbild für die effiziente Entwicklung immer komplexer werdenden Marktleistungen, die sich etwa durch dynamische Vernetzung, Autonomie und begleitende Services auszeichnen. „Digitale Zwillinge sowie die durchgängige Nutzung eines Systemmodells als zentrale Referenzstruktur sind für Realisierung und Betrieb von ASE von zentraler Wichtigkeit“, bekräftigte Riedel. Zu nehmende Hürden auf dem Weg seien die nach wie vor bestehende Vielfalt an (proprietären) Schnittstellen sowie die nötige homogene Datenmodellierung.

Als weiterer ISW-Referent stellte Forschungsdirektor Michael Neubauer das Thema Software-defined Manufacturing (SDM) in den Mittelpunkt. Hierzu gibt es an der Universität das umfangreiche Forschungsprojekt SDM4FZI (Software-defined Manufacturing für die Fahrzeug- und Zulieferindustrie), dessen verschiedene Aspekte und Fortschritte im Rahmen einer Artikelserie im SPS-MAGAZIN über einen längeren Zeitraum vorgestellt wurden. Was sich hinter dem Ansatz von SDM4FZI verbirgt, machte Neubauer am Wandel vom Handy zum Smartphone deutlich: „Auch ein Nokia hatte bereits mehrere Funktionen. Man konnte telefonieren, SMS schreiben oder sogar Spiele wie Snake spielen“, so Neubauer. „Allerdings wurden diese Features von Beginn an vom Hersteller vorgedacht.“ Das änderte sich beim modernen Smartphone gravierend. „Die Entwickler des iPhones haben heute gar keine Vorstellung davon, welcher Funktionsumfang später über die verschiedenen Apps ausgespielt wird.“

Übertragen auf die Fertigung bedeutet das: Von der Rechnerplattform komplett unabhängige Software erlaubt eine bedarfsorientierte Änderung oder Erweiterung der Funktionalität. Umgekehrt ist genauso ein flexibler Wechsel der Automatisierungs-Hardware möglich, z.B. eines Roboterfabrikats. Grundlegende Voraussetzung dafür ist eine standardisierte Beschreibung aller eingesetzten Elemente im Sinne der Industrie-4.0-Verwaltungsschale, die wiederum einher mit dem Konzept des digitalen Zwillings geht. Welches Gewicht SDM am Institut zugeschrieben wird, zeigt auch die Ankündigung der nächsten Innovationstage: Sie sollen als Abschlussveranstaltung des SDM4FZI-Projekts in den Herbst verschoben werden, konkret auf den 17. bis 19. September 2024.

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Künstliche Intelligenz in der Simulation

In der ISW-Forschungsgruppe ‚Virtuelle Methoden der Produktionstechnik‘ dreht sich alles um neue Technologien und Anwendungsbereiche für Simulationsmethoden rund um die virtuelle Inbetriebnahme. Gruppenleiter Florian Jaensch ging in seinem Vortrag darauf ein, welcher Nutzen sich durch KI und maschinelles Lernen für das Benutzen und Erstellen von Simulationsmodellen erzielen lässt. Er berichtete, wie sich eine Testumgebung für Steuerungssysteme zur Lern- und Optimierungsplattform umwandeln lässt. Weiteres Potential für den Einsatz von Machine Learning in Simulationsmodellen sieht er zudem in höherer Prozessgenauigkeit und mehr Recheneffizienz.

Obwohl das ISW verschiedene Perspektiven aus den eigenen Reihen beisteuerte, war das Podium überwiegend mit Referenten aus der Industrie besetzt. Das Spektrum der Speaker reichte von den Automatisierern Siemens (Digital Twins in Operation), ABB (Vom digitalen Produktabbild zur realen Poduktionsanlage) und Weidmüller (Digital Twin in der industriellen Anwendung) über Softwareanbieter wie Microsoft (Mixed Reality im Industrial Metaverse), Dassault (Holistischer Blick auf den digitalen Zwilling), ISG (VIBN aus 4D-Produktkatalogen) oder Eplan (Cloud-to-Cloud-Konnektoren zwischen Engineering-Systemen) bis zum Maschinenbauer Homag (Digitale Zwillinge im Produktlebenszyklus) sowie den KI-Entwicklern Inovex (Optimierung von Instandhaltungsprozessen), Sereact (Simulation-to-Reality für autonome Robotik) und Kenbun (Industrielle virtuelle Assistenten).

Vereinte Kräfte für den Digital Twin

„Diskussionen und Gespräche sind das Salz in der Innovationstage-Suppe“, so das Credo der Veranstalter. Deswegen steht der Kongress seit jeher im Zeichen des Networkings. Dazu gab es nicht nur in den ausgiebigen Pausen die Gelegenheit, auch die Abendveranstaltung bot ausreichend Raum für Gespräche zu den Kongressthemen und darüber hinaus.

Auf dem Podium wurde im Rahmen eines Panels ebenfalls kräftig diskutiert. Dort ging es primär darum, wie verschiedene Parteien zusammenarbeiten müssen, um das Potenzial des digitalen Zwillings bestmöglich zu entfalten. Prof. Alexander Verl (ISW) brachte die Sicht der Forschung ein, ISG-Geschäftsführer Dr. Christian Scheifele berichtete mit der Brille des Modellerzeugers bzw. Softwareanbieters und Benjamin Rother, Division Manager bei Heller, steuerte die Perspektive des Maschinenbaus bei. Ernst Esslinger, der sich neben seiner Tätigkeit bei Homag stark in der IDTA (Industrial Digital Twin Association) engagiert, nahm als Vertreter der Standardisierungs-Seite teil. So wurden aus den verschiedenen Blickwinkeln gesammelten Erfahrungen und bereits gelöste Aufgaben diskutiert. Zudem erfolgte eine Bestandsaufnahme der zu erreichenden Ziele und wie weit man auf der Roadmap dahin bereits ist. Die Quintessenz: Für die virtuelle Inbetriebnahme wird der Digital Twin bereits erfolgreich eingesetzt – für darüber hinaus gehende Mehrwerte wie digitale Services oder neue Geschäftsmodelle ist noch ein gutes Stück des Weges zu gehen.

Last but not least gab es an beiden Veranstaltungstagen die Möglichkeit zur Besichtigung der ISW-eigenen Maschinenhalle. Dort erlaubten die Mitarbeiter des Instituts tiefe Einblicke in das Forschungsprogramm und standen zu den verschiedenen Demonstratoren und Projekten Rede und Antwort. Um dem übergreifenden Ansatz des SDM4FZI-Projekts gerecht zu werden, wurden verschiedene einzelne Demonstratoren vom ISW zur so genannten Stuttgarter Maschinenfabrik (siehe QR-Code) zusammengefasst.

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