Sander Rotmensen von Siemens zum für die Industrie reservierten 5G-Funkspektrum:

Interview: „Für private Anwendungen ein großer Vorteil“

Im Sommer 2020 wird der 5G-Standard um die Funktionen erweitert, die für industrielle Anwendungen besonders wichtig sind. Wir haben mit Sander Rotmensen von Siemens darüber gesprochen, wann mit ersten industrietauglichen 5G-Produkten zu rechnen ist - und warum viele Fachmedien diesmal womöglich zu früh getrommelt haben.

Herr Rotmensen, wie weit ist der Markt für 5G-Funktechnik?

Bild: Siemens AG

Sander Rotmensen: Zunächst ist zwischen 5G-Technik für Verbraucher und für die Industrie, anders ausgedrückt Industrial 5G, zu trennen. Für Smartphone-Nutzer stehen schon einige Masten, von einem weiß ich etwa hier in Nürnberg. Da er in der Nähe eines Industriegebietes aufgestellt ist, werden private Nutzer allerdings nicht viel von ihm haben. Zumal es auch noch sehr wenige Endgeräte gibt, die 5G beherrschen. Das sind noch alles Non-Standalone-Lösungen. Das bedeutet: Die Datakommunikation findet über 5G statt, das Gerätemanagement aber noch immer über 4G. Bei echten 5G-Netzen reden wir von Standalone und dafür gibt es noch keine kommerziell verfügbaren Produkte auf dem Markt. In unserem Siemens Automotive Testcenter und Showroom in Nürnberg arbeiten wir mit Qualcomm Technologies zusammen, hier betreiben wir ein 5G-Standalone-Netzwerk um zukünftige Lösungen zu testen.

Woran arbeiten Sie genau?

Rotmensen: Momentan testen wir zum Beispiel drahtlose Kommunikation zwischen einer zentralen Steuerung und fahrerlosen Transportsystemen (FTS). Dafür nutzen wir gerade 5G, können aber auch auf Industrial Wireless LAN wechseln. Wir testen solche Lösungen gerade in Hinblick auf OPC UA und die unterschiedlichen industriellen Standards. 4G wurde seinerzeit vor allem für Mobiltelefone entwickelt. Ob sie skypen, Textnachrichten versenden oder Social Media nutzen, da geht es stets um Internet-Kommunikation mit gleichen Schnittstellen. In der Industrie haben wir hunderte unterschiedliche Protokolle, die sich in fast allen Endgeräten unterscheiden. Diese Besonderheit bringen wir in unserem Testcenter mit 5G-Technik zusammen.

Wie geht es weiter mit dem Funkstandard?

Rotmensen: Das Release 16 im Sommer wird für uns einer der Meilensteine werden. Es enthält einige Features, die gerade für die Industrie sehr wichtig sind. Um das einordnen zu können, sollte man wissen, dass sich das Standardisierungsgremium 3GPP von Release 8 bis 14 mit 4G befasst hat. Erst bei Release 15 ging es mit 5G los. Die Fähigkeiten von 5G werden oft anhand eines Dreiecks illustriert: Ganz oben seht da der Begriff Enhanced Mobile Broadband Communication (eMBB). Damit ist die Bandbreite gemeint, wie wir sie für Netflix-Streaming, Facetime, Skype und so weiter brauchen. Dieses Feature wurde im Release 15 geliefert. Die beiden anderen Ecken des Dreiecks sind URLCC, also Ultra-Reliable Low-Latency Communication, und Massive Machine-Type Communication (mMTC). Auf URLCC wartet die Industrie und ein Großteil dieser Features kommt mit Release 16. Massive Machine-Type- und der Rest der URLCC-Features kommen in Release 16 und 17 oder noch später. All diese brauchen wir für 5G-Netze, wenn sie die industriellen Anforderungen an Echtzeit und Zuverlässigkeit erfüllen sollen.

Es gibt Kritik an der IT-Sicherheit des 5G-Funkstandards. Wie sehen Sie diesen Aspekt mit Blick auf die industrielle Anwendung? Lassen sich womögliche Schwachstellen mit Siemens-Lösungen schließen?

Rotmensen: 5G ist sicherer als alle anderen Standards davor, auch aufgrund neu integrierter Verfahren. Was wir bei Siemens als großen Vorteil betrachten, ist die Möglichkeit des privaten Netzbetriebs. In ihrem eigenen Netzwerk können sie die Topologie, die Geräte und den Datenverkehr präzise verwalten und steuern. Das erleichtert es Anwendern auch, ihr Netz um das Security-Konzept von Siemens zu erweitern. Wir gehen mit 5G wie mit unserer bereits verfügbaren LAN- und Industrial- Wireless-LAN-Vernetzung um.

Was lässt sich denn mit 5G auf lokaler Ebene realisieren, die mit den heute verfügbaren Funktechnologien nicht zu realisieren ist?

Rotmensen: Man kann in diesen 5G-Netzwerken skalieren, etwa um mehrere Applikationen darin zu betreiben. Aktuelle Wireless-Lösungen werden häufig nur für eine Lösung aufgesetzt, etwa für eine Elektrohängebahn. In der Zukunft könnte alles über sogenannte Slices in einer einzigen großen Infrastruktur eingebunden sein. Sie können sich das als virtuelle 5G-Netze vorstellen, die jeweils eigene Anforderungen stellen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass es auch in Zukunft nicht nur 5G geben wird, Industrial-Wireless-LAN und so weiter wird weiterhin eingesetzt werden. Branchenverbände und einzelne Unternehmen haben es als Verhandlungserfolg vermittelt, dass bei der 5G-Frequenzvergabe ein Bereich für die industrielle Nutzung reserviert wurde. Dieses 100-Megahertz-Frequenzspektrum für private Anwendungen ist ein großer Vorteil für die hiesige Industrie. Vor allem für Industrieunternehmen mit besonders viel kabelloser Kommunikation, die ihre besonders wichtigen Applilkationen über ihre private Frequenz betreiben und bei weniger wichtigen auf öffentliches Spektrum ausweichen. Bei Handheld-Geräten spricht auch nichts gegen den Einsatz von bereits verfügbarer Technologie wie Industrial Wireless LAN. Zumal die kommende Version Wi-Fi 6 ebenfalls viele Verbesserungen für die Industrie mitbringen wird.

Welchen Stellenwert werden solche Funktechnologien Ihrer Meinung nach in der Fertigungsorganisation der Zukunft einnehmen?

Rotmensen: 5G und Industrial Wireless LAN werden zuverlässig mobilere und flexiblere Fertigungen unterstützen. Die Lösungen dürften sich in ihren Latenzen immer mehr der Echtzeit annähern, was auch Geschwindigkeiten erhöhen wird.

Bis hin zur modularen Fabrik?

Rotmensen: Das ist zweifellos eine realistische Vorstellung, ohne jetzt einen konkreten Zeitrahmen nennen zu wollen. Die Diskussionen um solche Konzepte könnten durch die aktuelle Wireless-Technologie einen beachtlichen Schwung erhalten.

Wie sieht die Produkt-Roadmap von Siemens aus?

Rotmensen: Wir arbeiten daran, aber richtig los geht es mit der Veröffentlichung von Release 16 im Sommer. Erst dann liegt uns und den anderen Hardwareherstellern die Beschreibung des Standards vor. Bis diese in Chips und anschließend in Produkte realisiert ist, dürften ein bis zwei Jahre vergehen. Die ersten Produkte werden wahrscheinlich noch keine höheren Echtzeitanforderungen umsetzen. Bis zu solcher Hardware für private Industrial 5G-Netze könnte es mindestens drei bis vier Jahre dauern.

Wird diese Siemens-Hardware interoperabel mit der Hardware anderer Hersteller sein?

Rotmensen: Unser Ziel ist immer, nah am Standard zu bleiben. Davon weichen wir in der Regel nur ab, wenn der Standard unseren Anwendern nicht die Möglichkeiten bietet, ihre Applikationen und Lösungen umzusetzen.

Herr Rotmensen, vielen Dank für das Gespräch! (ppr)

www.siemens.de

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