Umfrage: Wie reagieren Automatisierer auf gestörte Lieferketten?

Reshoring als Chance

Die Pandemie hat nicht nur unser gesellschaftliches Leben, sondern auch die Lieferketten und Beschaffungsroutinen der deutschen Industrie durcheinander gewirbelt. Während sich ersteres wieder normalisiert hat, ist die Versorgungssituation bisweilen noch angespannt. Das SPS-MAGAZIN hat beim Schneider-Electric-Konzern sowie beim mittelständischen Automatisierer Turck nachgefragt, welche Chancen man im Reshoring bzw. Nearshoring - also in der (Rück-) Verlagerung von Fertigungsstrukturen bzw. Lieferanten - sieht, und welche Erfahrungen bereits gemacht wurden.

Wie haben sich Bauteilemangel und gestörte Lieferketten auf Ihre Beschaffungs- und Vertriebsstrategie ausgewirkt?

Christian Wolf, Turck: Wie andere Unternehmen, war selbstverständlich auch Turck von Bauteilemangel und Lieferkettenstörungen während der Coronazeit betroffen. Wir haben in den letzten Jahren viel investiert in Redesigns elektronischer Schaltungen und nachhaltig verbesserte Beschaffungs- und SCM-Prozesse. So konnten wir viele Herausforderungen meistern und die Auswirkungen auf unsere Kunden möglichst gering halten. In den letzten Monaten hat sich die Situation erheblich verbessert. Zum einen gibt es Engpässe heute nur noch bei wenigen Komponenten, zum anderen profitieren wir heute natürlich von unserem optimierten Supply Chain Management rund um den Globus.

Thierry Tricot, Schneider Electric: Natürlich haben Bauteilemangel und gestörte Lieferketten auch bei uns ihre Spuren hinterlassen. Sie haben aber nichts an unserer grundsätzlichen Beschaffungsstrategie geändert, sondern waren ein zusätzlicher Katalysator für Transformationen, an denen wir ohnehin gearbeitet haben. Denn tatsächlich beschäftigen wir uns schon seit Jahren intensiv mit der Lieferkettenthematik und haben mit das dreijährige Programm Strive aufgesetzt. Es soll unsere Lieferketten intelligenter, schneller sowie effizienter und dadurch nachhaltiger, zuverlässiger und widerstandsfähiger machen. Das Programm endet in sechs Monaten, es befindet sich also aktuell auf der Zielgeraden. Künftig können wir dann etwa durch Multi-Sourcing sowie den verstärkten Einsatz digitaler Technologien präzise Lieferprognosen erstellen und drohenden Ausfällen vorbeugen.

Welches Potenzial sehen Sie im Reshoring/Nearshoring von eigenen Fertigungskapazitäten in Deutschland bzw. Europa?

Tricot, Schneider Electric: Die Relokalisierung von Lieferketten bietet generell eine ganze Reihe von Vorteilen: Durch Einbindung von Erfahrungen und Fachkenntnisse lokaler Zulieferer gelingt es z.B. oft schneller, sich an aktuelle Marktentwicklungen anzupassen und neue Lösungen zu konzipieren. Für die Auswahl unserer Lieferanten ist die Möglichkeit einer solchen engen Zusammenarbeit ein wichtiges Kriterium. Relokalisierung ist aber auch in Sachen Klimaschutz ein zentraler Aspekt: Mit einer langen Lieferkette kann man keinen schmalen CO2-Fußabdruck haben. Was die Klimabilanz angeht, ist die Nähe zu den Zulieferern letztlich sogar noch wichtiger als die Nähe zum Kunden. Aus diesem Grund ist es auch fester Bestandteil unserer Nachhaltigkeitsstrategie, kürzere Lieferketten zu realisieren und den Transport von Einzelteilen zu reduzieren. Gleichwohl gibt es Beschaffungsmärkte, die auf globaler Ebene verankert sind und das zunächst auch bleiben werden. Elektronische Komponenten einschließlich Halbleiter und Kunststoffrohstoffe sind Beispiele dafür. Hier sehen wir kurzfristig kein Potenzial für eine signifikante Verlagerung in Richtung Lokalisierung – nicht zuletzt, da dies massive Kapitalinvestitionen erfordern würde.

Wolf, Turck: Für die Weiterentwicklung der Turck-Gruppe als global aufgestellter Automatisierungspartner ist die Internationalisierung seit jeher einer der strategischen Eckpfeiler. Das gilt nicht nur für die Vertriebsgesellschaften, sondern für die Produktionswerke ebenfalls. Selbstverständlich stärken wir auch die Entwicklungskompetenz in den jeweiligen Regionen, um auch die kundenspezifischen Hard- oder Softwareausprägungen unserer Automatisierungslösungen schnell und wirtschaftlich im engen Schulterschluss mit unseren jeweiligen Kunden umzusetzen. Nearshoring war uns dabei schon immer wichtig, sodass wir in unseren größten Absatzmärkten frühzeitig auch mit Produktionsstandorten vertreten waren. So produzieren wir für Nordamerika in den USA und vor allem in Mexiko, den asiatischen Markt bedienen wir über unseren Standort im chinesischen Tianjin und perspektivisch auch über einen weiteren Standort in Asien. Wir haben im Laufe der Jahre die Fertigungstiefe an den jeweiligen Standorten immer weiter vergrößert und als Ziel definiert, rund 70 Prozent der Wertschöpfung, also Sourcing und Fertigung, auf den Kontinenten zu erzielen, wo unsere Lösungen vertrieben werden. Die Verwerfungen der Coronazeit haben gezeigt, dass diese Entscheidung goldrichtig war, ermöglicht sie doch kürzere und schnellere Lieferketten.

Sehen Sie Möglichkeiten, Ihre Lieferketten lokaler auszulegen?

Tricot, Schneider Electric: Ein lokal orientiertes Modell hat – wie eben erwähnt – natürlich eine ganze Reihe von Stärken. Es zeigt aber rasch auch Schwächen, sobald globale Standards unterschritten werden oder Märkte von vorneherein in hohem Maße globalisiert sind. Ein ausgewogenes Verhältnis in der Lieferkette ist deshalb unerlässlich. Wir setzen bereits seit vielen Jahren auf einen multilokalen Ansatz, der lokale und regionale Vorteile nutzt, ohne sich von globalen Märkten und deren Standards abzukoppeln. Durch diesen Ansatz können wir nach unserer Erfahrung die Resilienz unserer Lieferketten am besten gewährleisten. Ein gutes Beispiel für Relokalisierung ist die Batterieproduktion, wo wir uns unter anderem auch in der Upcell Alliance engagieren, die durch Innovationen in der Batteriewertschöpfungskette die wirtschaftliche Autonomie Europas sicherstellen will. Auf die globalen Märkte müssen wir hingegen auch künftig bei vielen Rohstoffen setzen, etwa bei den für die Elektronikfertigung essentiellen seltenen Erden.

Wolf, Turck: Bei aller Internationalisierung hat Turck die Fertigungsaktivitäten in Deutschland nie aufgegeben und produziert an zwei großen Fertigungsstandorten in Halver und in Beierfeld. Vor drei Jahren ist ein neuer, strategisch wichtiger Produktionsstandort im polnischen Lublin hinzugekommen, um die Kapazität und die Flexibilität für den europäischen Markt zu steigern. So erreichen wir kürzere Lieferzeiten für unsere Kunden in Europa und verringern das Risiko für Lieferkettenprobleme.

Haben Sie bereits Reshoring/Nearshoring-Maßnahmen ergriffen oder planen dies bald zu tun?

Wolf, Turck: Wir haben schon vor Corona mit der Planung unserer neuen Fertigung in Lublin begonnen, um unsere Vorgabe hoher kontinentaler Wertschöpfungsketten erreichen zu können. Ziel war, auch diejenigen Produktgruppen in Europa zu fertigen, die wir bislang aus unseren Werken in anderen Kontinenten bezogen haben. Der Standort ist seit drei Jahren in Betrieb und liefert eine hervorragende Performance. Sie ist so gut, dass wir jetzt bereits mit den Planungen für eine Erweiterung des Standorts begonnen haben, die wir schnellstmöglich umsetzen wollen.

Tricot, Schneider Electric: Wir verfolgen prinzipiell einen ganzheitlichen regionalen Ansatz, der den Vorteilen der Relokalisierung Rechnung trägt und haben unsere Lieferketten deshalb auf vier Zentren verteilt. Jedes dieser Zentren ist für seine Produktspezifikationen, für Forschung und Entwicklung, sowie für Lieferanten und Lieferkette selbst verantwortlich. Neben China, den USA und Indien ist eines dieser Zentren auch Europa. Die Konsequenz: 90 Prozent der Produkte, die wir heute in Europa verkaufen, wurden in Europa entwickelt. Und 80 Prozent der Produkte, die wir dort verkaufen, wurden dort produziert. Dank dieses Multi-Hub-Ansatzes können wir uns schnell an die Anforderungen des jeweiligen Marktes anpassen – und gleichzeitig unseren CO2-Fußabdruck reduzieren. Parallel dazu werden global verankerte Märkte aber auch weiterhin global verwaltet, da wir hier – wie alle anderen Marktteilnehmer auch – keine alternativen Handlungsoptionen haben und uns an den aktuellen Marktgegebenheiten orientieren müssen.

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