Trinkwasseranlage als Testszenario für das IIoT

Auf Herz und Nieren

Das Unternehmen Merck mit Sitz in Darmstadt betreibt verschiedene verfahrenstechnische Prozessanlagen für die chemische und pharmazeutische Produktion. Für die stetige Steigerung der Produktivität, Sicherheit und Nachhaltigkeit setzt man auf Technologien aus den Bereichen IIoT und Industrie 4.0. Vor dem Einsatz in der Produktion werden diese in der Trinkwasserspeicherung des Werks auf Herz und Nieren getestet.
 Der Wireless-HART-Adapter 
FieldPort SWA50 (links im Bild) kann in Bestandsanlagen 
nachgerüstet werden und 
bringt Messgeräte in die Cloud.
Der Wireless-HART-Adapter FieldPort SWA50 (links im Bild) kann in Bestandsanlagen nachgerüstet werden und bringt Messgeräte in die Cloud.Bild: Endress+Hauser (Deutschland) GmbH+Co. KG.

Unter den Produkten, die die drei Unternehmensbereiche von Merck herstellen, finden sich zahlreiche biotechnologisch erzeugte Pharmazeutika, auch ultrareines Laborwasser oder hochempfindliche Diagnosetests sowie Produkte und Services der industriellen Mikrobiologie gehören zum angebotenen Produkt- und Leistungsportfolio. Das Unternehmen produziert darüber hinaus jedoch auch Materiallösungen z.B. für die elektronische Halbleiterproduktion, den Automobil- sowie den Kosmetikmarkt. Bei der Produktion liegt das Hauptaugenmerk auf der stetigen Steigerung von Effizienz und Sicherheit, aber auch der Nachhaltigkeit: so hat sich das gesamte Unternehmen ambitionierte Klimaziele gesteckt. Um alle diese Ziele zu erreichen, setzt Merck auf smarte Sensorik, Konnektivitätslösungen und testet das IIoT-Ökosystem Netilion von Endress+Hauser.

Produktionsanlagen als Testszenarien ungeeignet

Damit die Produktion stetig in Hinsicht auf Produktivität und Sicherheit optimiert werden und in Neubau- und Modernisierungsprojekten neueste Technologie zum Einsatz kommen kann, verfügen die Mitarbeitenden im Engineering über ein sehr hohes Technologie-Know-how. Dies rührt nicht zuletzt auch daher, dass Produktinnovationen wie z.B. Neuheiten in der Messtechnik und im Bereich IIoT erprobt werden können. In produktiven Anlagen wären Geräte- und Technologietests jedoch mit einem hohen Risiko verbunden. Im biotechnologischen Bereich unterliegen die Anlagen z.B. GMP-Regularien, die es quasi unmöglich machen, ein Messgerät zu Testzwecken ohne Konformitäts-Check zeitweilig gegen ein anderes auszutauschen. In der Chemie-Produktion sind es hingegen allgegenwärtige explosionsgeschützte Bereiche oder SIL-Sicherheitseinrichtungen, die die Erprobung neuer Technologien deutlich erschweren. Zu den regulatorischen Einschränkungen und den Anforderungen der Anlagensicherheit gesellen sich außerdem praktische Gründe, Tests nicht in produktiven Anlagen durchzuführen: So müsste beispielsweise für den Austausch eines Messgeräts der laufende Prozess unterbrochen werden, was jedoch zu hohe Kosten verursacht.

 Das cloudbasierte Füllstandsmessgerät Micropilot FWR30 schickt Füllstände und weitere Daten per Mobilfunk direkt in die Cloud.
Das cloudbasierte Füllstandsmessgerät Micropilot FWR30 schickt Füllstände und weitere Daten per Mobilfunk direkt in die Cloud. Bild: Endress+Hauser (Deutschland) GmbH+Co. KG.

Proof-of-Concept in der Trinkwasserspeicherung

Aus diesen Gründen identifizierte man bei Merck die Anlage für die Trinkwasserspeicherung als ideale Umgebung für Proof-of-Concept-Szenarien. Diese Anlage fungiert als Trinkwasserspeicher für das gesamte Werk in Darmstadt. Die Speicherung dient einerseits der Erhöhung der Versorgungsicherheit: Bei externen Versorgungsunterbrechungen kann die Trinkwasserversorgung aus den Pufferspeichern aufrechterhalten werden. Die beiden Speichertanks decken etwas mehr als den Tagesbedarf des Werks ab. Weil die Trinkwasserbedarfe des Werks stark schwanken, soll der Trinkwasserspeicher andererseits auch die Entnahmeschwankungen aus dem kommunalen Netz ausgleichen – der Zufluss vom Versorger erfolgt nun gleichmäßig über 24 Stunden. Die Speicherung sowie die Versorgung des internen Netzes ist dabei voll redundant aufgebaut, sodass die Wasserversorgung sogar bei einem Wasserrohrbruch in der Anlage aufrechterhalten werden kann. Und sollte die interne Trinkwasserversorgung dennoch einmal ausfallen, fährt das System zurück auf den kommunalen Versorger.

Laut Michael Werske, Head of Utility Supply Services bei Merck, handelt es sich bei der Trinkwasserspeicheranlage um „die ideale Anlage, um Technologien zu testen und technologische Innovationen auszuprobieren“. Sie kommt ohne explosionsgeschützte Bereiche aus, alle Anlagenbereiche sind gut zugänglich. Außerdem, so Werske weiter, verbaue Merck in dieser Anlage dieselben Assets, die auch in der Chemie- und Pharmaproduktion verbaut werden.

Erfolgreiche Technologien ermitteln

„Wir testen hier z.B. das IIoT-Ökosystem Netilion von Endress+Hauser und auch Augmented-Reality-Anwendungen mit Lidar Scanning von anderen Anbietern. Weil wir verschiedene Innovationen parallel testen, sind wir auch in der Lage, die neuen Technologien zu verknüpfen. Ein Kollege kann z.B. die Asset-Informationen aus Netilion in die Augmented-Reality-Anwendung einbinden“, berichtet Werske. Netilion kann als Datenplattform fungieren und die aufbereiteten Daten via Connect und API anderen Systemen verfügbar machen. Durch die Redundanz der Trinkwasseranlage können Geräte einfach getauscht werden, die Anlage biete außerdem auch noch genügend Platz für raumgreifende Ein- und Ausbauten sowie für verschiedene Tests, analysiert Werske die Situation vor Ort. Klar formuliert er auch das Ziel hinter den verschiedenen Pilotprojekten: „Geplant ist, neue Technologien, die sich hier bewähren, dann ebenfalls in Produktionsbereichen einzusetzen und diese auf das ganze Werk auszurollen.“

Messtechnik und Cloud-Lösungen im Testbetrieb

Im Fokus der Tests stehen auch verschiedenste neue Messgeräte sowie das IIoT-Ökosystem Netilion von Endress+Hauser. Die Messinstrumente decken dabei ein breites Spektrum an Messparametern ab: Neben Temperatursensoren und Drucktransmitter wird auch ein Analysepanel für Testmessungen der Chlor-Konzentration im Trinkwasser, das Cloud-only-Füllstandsmessgerät Micropilot FWR30 oder das magnetisch-induktive Durchflussmessgerät Promag W mit Heartbeat Technology eingesetzt. Geräte eingehend zu testen, bedeutet für Werske dann auch, diese zu stressen: „Beim Durchflussmessgerät Promag W experimentieren wir damit, Alterung oder Ansatzbildung zu simulieren, um Erkenntnisse über die Geräte im produktiven Einsatz zu gewinnen. Z.B. könnten wir hier die Elektroden manipulieren, worauf die geräteinterne Heartbeat Diagnose dann entsprechende Fehlermeldungen und Wartungsbedarfe ausgibt.“ Werskes Wunschziel für die Zukunft sei es, dass ein Prüfzyklus automatisiert im Sensor durchlaufen und ein Bericht automatisch angelegt werde. So müsste das Wartungspersonal für Routineprüfungen gar nicht mehr zum Gerät geschickt werden. Diese als Heartbeat Verifikation bekannte Funktion ist schon heute Bestandteil vieler smarter Messgeräte. Damit sie in der Praxis genutzt werden kann, muss sie noch in die Arbeitsabläufe implementiert werden. Was also technologisch bereits funktioniere, so Werske, kann in der Praxis nicht immer 1:1 umgesetzt werden.

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