Industrieller Öko-Selbstbetrug

Ich bin bezüglich der Energiewende ungern der Spielverderber, im Gegenteil: Das Ziel einer CO2-neutralen Weltwirtschaft ist meiner Meinung nach absolut sinnvoll. Aber der Zeitplan, vor allem der deutsche, scheint mir mehr als ambitioniert. Ist er das? Was sagen die Möglichmacher der Automatisierungsbranche dazu?

Auf einer Pressekonferenz Ende vergangenen Jahres stellte ein Unternehmen der Automatisierungsbranche stolz seine Nachhaltigkeitsstrategie vor. Bis 2030 will es, wenigstens intern, CO2-neutral produzieren. Keine leichte Aufgabe, da der Fertigungsprozess energieintensiven Kunststoffspritzguss umfasst. Teil der präsentierten Lösung: Durch die Umstellung auf Ökostrom soll der CO2-Ausstoß schlagartig um 70% reduziert werden. Wenn man den direkt an der Strombörse kaufe, so der Geschäftsführer, sei das noch nicht einmal teurer. Ehrlich gesagt: Ich bin da skeptisch. Schließlich versuchen immer mehr Unternehmen den Trick mit grünem Strom, wie zahlreiche Pressemeldungen auch an unsere Redaktion belegen. Und nicht nur Mittelständler denken so: Die Deutsche Bahn plakatiert schon seit Jahren auf ihren Zügen, dass sie zu 100% mit Ökostrom fährt. Unter diesen Bedingungen dürfte der Preis an den Strombörsen rasant steigen, wenn die nachgefragten Mengen an CO2-freier Energie denn überhaupt verfügbar sind.

Und das sind sie eher nicht. Ein Blick in die Zahlen der heimischen Energie-Wirklichkeit ist ernüchternd: Kohleverstromung und Atomenergie stellten in den ersten drei Quartalen 2021 satte 45% der Nettostromerzeugung. Die Windenergie brachte es im selben Zeitraum auf 20%, Sonnenenergie auf 11%. Klar, das soll sich ändern: Bis 2030, so der Koalitionsvertrag, sollen Solarkraft und Windenergie mindestens 80% des Stromverbrauches in Deutschland decken. Wenn der Windanteil also von 20 auf 60% steigen soll, heißt das mit Dreisatz gerechnet, dass zu den bisher in Deutschland stehenden ca. 30.000 Windenergieanlagen weitere 60.000 Turbinen zugebaut werden müssen. Allein um die Nominalleistung zu ersetzen, die durch die Abschaltung von Kohle- und Kernkraft entsteht, müssen wir also ab sofort täglich 20 Windräder aufstellen – wenn der Stromverbrauch gleich bleibt.

Das tut er aber nicht, denn zur Strategie der Klimawende gehört es auch, dass der Straßenverkehr auf Elektrofahrzeuge und die Gebäudeheizung auf Wärmepumpen umgestellt werden sollen. Modellrechnung: Ein modernes 6MW-Windrad hat in Deutschland im Schnitt einen jährlichen Output von rund 10GWh. Um zusätzlich 80% der laut Umweltbundesamt ca. 700.000GWh Heizenergie CO2-neutral zu bewältigen, müssten nochmal 56.000 Windräder dazukommen.

Wir haben derzeit gut 48 Millionen Pkw in Deutschland. Nach Prognosen soll der Bestand trotz sinkender Bevölkerungszahlen weiter steigen. Wenn bis 2030 nur die Hälfte der Pkw vollelektrisch unterwegs sind, pro Jahr je 13.000km zurückgelegt werden und pro 100km ein Strombedarf von 20 kWh angesetzt wird, benötigen diese Autos mindestens 62.000GWh Strom pro Jahr. Das entspricht etwa der Hälfte der aktuellen Windenergieproduktion. Also sparsamere Autos? Eher nicht: Natürlich sind Elektrofahrzeuge effizienter als Verbrenner. Doch die 1,5t schwere Familienkutsche mit 140PS Turbodiesel wird im Zuge der Elektrifizierung erfahrungsgemäß nicht mit einem Elektro-Smart ersetzt, sondern durch ein 2,2t-Elektro-SUV mit 250PS und Allradantrieb. Da schmilzt auch der Wirkungsgradvorteil der Permanentmagnet-Synchronmaschine.

Und die Industrie? Klar, das Licht in der Werkhalle automatisch ausschalten und IE4-Motoren einbauen ist nett, aber mit dem Schmelzpunkt von Stahl oder Kunststoff lässt sich nicht verhandeln. Da verwundert es nicht, dass das Umweltbundesamt für Deutschland eine Gesamtenergieeinsparung bis 2035 von nur ca. 10% als realistisch ansieht.

Hinzu kommt: Die Kapazitätslücke durch Atom- und Kohleausstieg soll übergangsweise mit Gaskraftwerken geschlossen werden. In den kommenden acht Jahren werden also gut 100 neue Gaskraftwerke à 300MW nötig sein. Selbst wenn die Genehmigungsverfahren statt bisher sechs Jahre künftig nur noch sechs Wochen dauern: Hat unsere Industrie bis 2030 überhaupt die Fertigungskapazität für den Bau von jährlich 12 Gaskraftwerken und 8000 Windenergieanlagen?

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich denke, dass eine Energiewende zu schaffen ist, in Deutschland und weltweit (vielleicht sollten wir die Atomkraft nicht zu schnell abschreiben). Allerdings glaube ich nicht, dass der aktuell diskutierte deutsche Zeitplan realistisch ist. Deshalb wundere ich mich, warum Unternehmer und Fachverbände nicht auf die Barrikaden gehen. Da will wohl keiner der Spielverderber sein. Doch wohin es führt, wenn man unrealistische Ziele unwidersprochen lässt, hat uns die Autoindustrie vor Augen geführt. Da wurden Abgasgrenzwerte so lange achselzuckend hingenommen, bis sich manche (gar nicht so wenige) nur noch mit Betrug zu helfen wussten. Der Ruf der Autoindustrie leidet bis heute darunter. A propos Betrug: deutsche Atom- und Kohlekraftwerke abschalten und dafür französischen Atom- und polnischen Kohlestrom kaufen, halte ich auch für nicht ganz lauter…

Und die Automatisierer? Die Techniker, die Tüftler? Was sagen die? Besser gefragt: Was sagen Sie? Arbeiten Sie schon an Lösungen, Ihre Steuerungs- oder Sensorproduktion wirklich CO2-neutral zu gestalten? Haben Sie Ideen, wie andere Industrien mit Ihren Automatisierungslösungen nachhaltig werden können? Dann her damit! Denn nur mit Ihren Ideen werden wir es schaffen. Lieber eine von manchen als zu lasch titulierte, aber realistische Wende bis 2045, als ein moralisch überlegenes, aber grandioses Scheitern 2030. Das gibt Technikern und Ingenieuren die Zeit, realistische Lösungen zu erarbeiten und der Gesellschaft die Möglichkeit, umzusteuern. Schon mal über eine Bahncard anstelle eines Dienstwagens nachgedacht?

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